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Redebeitrag 03.08.21

 

Kein Zurück zur NORMalität – Aus der Krise in die Utopie

Wir vom Feministischen Streikkollektiv sind heute hier um laut klar zu machen: Das ist unser Platz! 

Der 8. März dieses Jahr ist anders als sonst: Die Pandemie hat unser letztes Jahr geprägt. Auch heute ist es ungewohnt, mit so vielen Menschen auf der Straße zu sein und zusammen zu stehen. Damit das möglich ist, sorgen wir uns gemeinsam darum, dass alle Abstand halten, Masken tragen, solidarisch miteinander sind. Wir versuchen dafür Sorge zu tragen, dass so viele wie möglich teilnehmen können. Gleichzeitig sorgen wir uns, dass wir einander gefährden.

Diese Sorge ist nicht selbstverständlich. Sie ist uns als Frauen, Lesben, inter, Trans, AGender-Personen auch nicht natürlich oder vorgegeben. Wir stehen heute hier, um diese Sorge einzufordern, die Sorge um uns, unsere Mitmenschen, die Welt, die uns umgibt. Dafür, dass sowohl die private Sorge, als auch die öffentliche Sorgearbeit anerkannt, solidarisch durchgesetzt und die Bedingungen verbessert werden!

Während einige die Corona-Krise als „Stillstand“ oder „Auszeit im Home-Office“ erleben, verschärfen sich für die Sorgearbeitenden in Krankenhäusern, Senior*innenheimen, Kitas, für die ambulant, bezahlt und unbezahlt Pflegenden, für die Betreuenden und Fürsorgenden die ihnen schon lange bekannten Krisen. Die Krisen, die wir schon seit Jahren unter Pflegenotstand, Care-Krise, „Betreuungslücke“ usw. kennen. Statt echter Anerkennung herrschen weiterhin Überlastung, Unterfinanzierung, Personalmangel, niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen. Ein Großteil der in der Sorgearbeit Beschäftigten sind Frauen* und Queers; darunter insbesondere auch migrantische Personen, die die weiße Schein-Emanzipation an vielen Stellen erst ermöglichen. Und auch im privaten Raum wird ihnen die unbezahlte Sorgearbeit zugeschrieben und überlassen. Lasst uns heute laut sein für all diejenigen, die unter patriarchalen Verhältnissen am meisten leiden und deren Sein und Sorgen ausgebeutet wird!

In der Krise zeigt sich, was schon lange klar sein sollte: Die Gesellschaft ist auf ein funktionierendes System für Gesundheit und Sorge umeinander angewiesen. Sorge-Arbeit betrifft uns alle und geht jede*n von uns etwas an! Wer zieht die Kinder auf, wer pflegt die Kranken, wer schenkt Freund*innen ein offenes Ohr und wer sorgt sich um die Unversehrtheit unserer Umwelt? Wer hat wie Zugang zu Versorgung? Und wer sorgt eigentlich für jene, die für uns sorgen?

Sorgearbeit kann nicht weiter warenförmig organisiert werden, denn Sorgearbeit und die damit verbundenen Beziehungen sind nicht warenförmig. Um hierauf aufmerksam zu machen, haben wir in der letzten Woche zusammen mit Gewerkschaften und Beschäftigten in kämpferischen Mittagspausen Wut und Forderungen über die Arbeitsbedingungen in der bezahlten Sorgearbeit auf die Plätze Frankfurts getragen.

Bei einer kämpferischen Mittagspause am Sozialrathaus Dornbusch ging es um Jugend- und Sozialarbeit: Denn Sozialarbeitende kümmern sich oft, wenn sich keiner kümmert. Aber wer kümmert sich um sie? Am Uniklinikum berichteten die Beschäftigten von schlechten Arbeitsbedingungen, Druck, Überlastung, Erschöpfung und Personalmangel. War die Situation schon vor Corona prekär, hat ihnen das Pandemiejahr sehr zugesetzt. Die Kitas sind in Zeiten von Corona besonders belastet: Von ihnen wird erwartet, dass sie den Betrieb aufrechterhalten, sich um die Kinder sorgen, während die Eltern auf der Arbeit sind – gleichzeitig sind damit die Erzieher*innen und die Kinder besonders gefährdet.

Zahlreiche weitere Bereiche könnten noch hinzugefügt werden. Sie alle haben gemeinsam: Die Arbeit ist notorisch unterbezahlt, es fehlt an Personal, sodass das bestehende überlastet wird. Die Bereiche sind an Profit orientiert und lassen dafür sowohl Arbeitende als auch die zu Pflegenden hinten runterfallen. Überall braucht es mehr Personal, bessere Bezahlung und eine Aufwertung – auch von privater Pflegearbeit!

Besonders wütend hat uns gemacht, dass die Chance vertan wurde, einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag für die Altenpflege zu erreichen. Ausgerechnet die katholische Caritas war es, die mit ihrer Ablehnung das Lohndumping in der Pflege absicherte – nur um ihre kirchlichen Sonderrechte zu schützen. Verlierer*innen sind die rund 1,2 Millionen Beschäftigten in der Altenpflege! Klatsche statt Klatschen scheint die neue Devise der Krisenpolitik zu sein. Gut, dass die Kolleg*innen von ver.di hiergegen heute Mittag vor dem Sitz der Caritas protestiert haben.

Statt in der Krise in die sozialen Bereiche zu investieren, hat CDU-Kämmerer Becker gerade durchgesetzt, dass hier in Frankfurt die städtischen Ausgaben gekürzt statt aufgestockt werden – um 143 Millionen Euro. Mitten in der Pandemie muss mit massivem Sozialabbau gerechnet werden!

Wie kann es sein, dass gekürzt, statt in Sorgearbeit investiert wird? Dass die Politiker*innen es wagen, den Pflegearbeitenden zuzuklatschen, nur um dann die politische Krise der Sorgearbeit weiter voranzutreiben?

Wir wollen weder euren Krisenmodus noch zurück zu der Normalität vor der Pandemie, die für viele für uns schon der Sorgenotstand war! Wir fragen, wem gefällt und wem nützt dieser Normalzustand, der auf der Ausbeutung von Sorge-Arbeiter*innen, der rassistischen Ausgrenzung von Schwarzen und People of Color, der patriarchalen Unterdrückung aller, die sich nicht in das binäre Geschlechtersystem einordnen wollen oder können, und der Ignoranz gegenüber Sorgearbeit beruht?

Wir streiken! Das ist unsere Gesellschaft!

Und wir finden: Darin muss die Sorge umeinander und um unsere Umwelt im Zentrum stehen!

Diese Sorge muss solidarisch organisiert sein. Wir kämpfen für neue Formen des Miteinanders, eine kollektive und solidarische Organisation von Sorgearbeit, die außerhalb der Logik von Kapital und Markt funktioniert. Sorgearbeit muss ihren Platz im Zentrum der Gesellschaft erhalten. Sie muss von einer von Diskriminierung und Abwertung geprägten Tätigkeit in ein befreiendes und kreatives Feld für menschliche Beziehungen verwandelt werden.

Wir fordern mehr Personal, bessere Gehälter und Arbeitsbedingungen für alle, die in Bereichen arbeiten, die in der Krise endlich als systemrelevant erkannt wurden. Die Abschaffung der Fallpauschalen und bedarfsgerechte Finanzierung der Gesundheit und eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Lohnfortzahlung muss bei Betriebsschließungen, Kurzarbeit und KiTa- und Schulausfall geleistet werden. Eine repressionsfreie Grundsicherung und den Ausbau von Schutzräumen für Frauen* und Queers, Wohnungslose, Geflüchtete und Kinder.

Wir fordern eine neue Praxis des Sorgens – nicht als Utopie, sondern als tagtägliche Aufgabe im Großen und im Kleinen, im Hier und Jetzt, auch in unserer politischen Arbeit. Lasst uns experimentieren und Sorge immer wieder aufs Neue miteinander verhandeln.

Kein Zurück zur alten Normalität, für eine Utopie im Heute: Denn das ist unser Platz!